Tulum, Qiantana Roo
20.214945° N, 87.429521° W
In Tulum hieve ich mein Marschgepäck zu Dora und Pierre in die Polar 64. Eine Ringeltaube gurrt friedlich. „Nimm Platz“, sagt Dora mit sanfter Stimme und einem seidigen Blick aus gütigen, tiefbraunen Augen. Sie deutet auf den Stuhl, der im Schatten eines haushohen Tulipanstrauches steht, aus dem hunderte roter Blüten flammen.
Ich setze mich. Dora mag ich sofort. Sie richtet das Holzhäuschen, das mir auf dem Foto im Internet so gut gefallen hat. Auf dem Wellblechdach singt ein unbekannter Vogel. Das große Bett ist bequem und sauber, ein Mosquitozelt macht es zum Himmelbett.
Für weniger als 15 Euro beziehe ich ein kleines Haus mit orangegelben Wänden, einem Tisch, Stühlen, einer Ablage und einem großen Spiegel, der auf einem antiken Frisiertisch steht.
Am liebsten würde ich aufs Bett fallen, doch Zeit zum Ausruhen bleibt mir nicht. Mit dem Aufenthalt in Frankfurt habe ich 24 Stunden verloren. Heute ist der Tag, an dem ich Claudia Müller-Ebeling und Christian Rätsch treffen werde. Hoffentlich.
Ich lasse mir von Dora zeigen, wie ich ins Internet komme und sehe in meinen Mail-Postkasten. Da sind Antworten von zu Hause, liebe Wünsche, und da ist die Bestätigung zu meinem Treffen heute am Meer. Wenig später leihe ich ein Rad und strampele eine Stunde länger als angenommen zum Shambala Petit Hotel am endlos langen Strand von Tulum. Erschöpft und etwas mitgenommen komme ich nach 72 Stunden endlich am ersten Etappenziel meiner Reise an. Ein stiller Ort, an dem die Menschen Ruhe und Entspannung finden. Ich nicht. Niemand erwartet mich dort.
Ich bin atem-, sprach- und ratlos. Für dieses Treffen bin ich um die halbe Erde gereist. Eine junge Frau, die von ihrem Aufenthalt hier im Yoga-Retreat einen hellen Schein über dem Kopf mit sich trägt, sieht mich mitfühlend an und rät: „Fragen Sie nebenan.“ Ich tue es. Niemand weiß etwas.
***
Ich setze mich auf einen Stein, der im Schatten eines schilfgedeckten Rundhauses liegt. Was nun? Mein Kopf ist leer wie ein weißes Blatt Papier. Er und ich wissen nicht weiter. Auch nach einigen Blicken in die unbemannte Landschaft nicht. Ratlos weine ich vor Erschöpfung.
Hinter einer Sanddüne taucht der blonde Schopf eines Adonis auf. Er sieht, dass ich Hilfe brauche und steuert direkt auf mich zu.
„Was quält dich? Du bist in Tulum.“
Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich schlucke. Als ich eine Kurzbeschreibung meiner Situation abgebe, fragt er nach meinem Namen. „Viola“, sage ich müde.
„Viola.“ Adonis merkt auf. „Ja!“, erinnert er sich, so als hätte er das zwischenzeitlich vergessen. Er greift in seine weite Jutehosentasche und zieht tatsächlich einen Zettel mit einer Telefonnummer heraus. „Vor einer Weile hat jemand nach dir gefragt.“
Unfassbar! So geht das hier. Wir sind in Tulum.
Ich muss mich erst wieder daran erinnern, dass die Dinge im Fluss sind, wenn wir uns auf unseren Lebensmeridianen bewegen, auf eigenen Pfaden, in unsere eigene Richtung. Nach einem Telefonat und einigem Hin und Her weiß ich wohin.
Zwischen Palmen und niedrigen Bäumen gehe ich auf der schattigen Küstenstraße einige Grundstücke weiter. Als ich in die Anlage einbiege, ist der Sand unter meinen Füßen so fein, dass er in alle Ritzen der Sandalen dringt. So kann ich nicht laufen. Ich ziehe sie aus und gehe barfuß auf ein ovales, offenes, mit Palmwedeln gedecktes Rundhaus zu. Es ist Rezeption, Restaurant und Nachtbar zugleich. Dort soll ich die beiden Wissenschaftler treffen.
Ich steige einige Holzstufen und sehe durch die offene Geländertür ein Gesicht. Das ist er. Christian Rätsch – ich erkenne ihn sofort an seinen ausdrucksvollen Zügen und dem langen dunklen Haar. Claudia Müller-Ebeling erkenne ich an ihren freudefunkelnden Augen und ihrem langen schwarzen Haar. Der erste Blick ist offen, wie ein Erkennen, so als würden wir auf der gleichen Frequenz senden. Ich sehe zwei, in denen nicht das Herz des Eroberers, sondern des staunenden Menschenfreundes schlägt.
Der Sand an der Küste von Tulum blendet weiß vor katalogblauen Wellen. Die Pyramide auf den Kalksteinklippen spiegelt sich hell im Karibischen Meer. Wir stellen drei bequeme Strandliegen zusammen. Über uns ziehen Adler, Fregattvögel und Pelikane ihre Bahnen. Schnell ist das förmliche Sie in ein Du gewechselt und wir reden über gestern, heute und morgen, über alte Götter und die moderne Welt, und darüber, wie es war, als Christian als junger Mann zum ersten Mal hierher gekommen ist.
„Hier stand 1978 eine einzige Fischerhütte“, sagt er und sieht lächelnd in die Ferne, so als sähe er sich selbst und als käme er beglückt aus der Vergangenheit zurück.
Er hat den Reiz der Gegend und die Faszination der Kultur früh erkannt und war einer der ersten und wenigen Forscher, die Zeit mit den 43 Menschen hier verbrachten und Màaya t‘àan, die Maya-Sprache lernten. Es gab keinerlei Aufzeichnungen. „Wir hatten nur die Lautschrift von Landa.“
So ging er den direkten Weg und der führte den jungen Wissenschaftler ins nördliche Maya-Tiefland nach Yucatán.
„Als ich hier lebte, war ich bekannt auf der Halbinsel. Wenn ich irgendwo hinkam, fragten die Leute: ‚Bist du der Deutsche aus Chiachil?‘“
Erst der Tourismus um die Mayastätte hat der Gegend eine neue Blütezeit verschafft. Rings um die Pyramiden von Tulum ist eine Kleinstadt gewachsen.
Inzwischen haben unzählige Wissenschaftler viel über die Maya nachgedacht, geforscht und niedergeschrieben. Wir sehen einer kleinen weißen Wolke nach und lassen unsere Gedanken vorüberziehen. Ich notiere einige Literaturempfehlungen und wir verabreden uns für den nächsten Tag an den Pyramiden.
***
Endlich habe ich wirklich die Augen offen dafür, wo ich bin. Die Karibik hält, was hier aufgenommene Postkartenmotive versprechen. Solchen Sand habe ich noch nirgends gesehen. Wie gewaschen und fein wie in einer Quarzsanduhr. Das Meer rauscht davon anders hier.
Mexiko scheint mir vertraut. Die kühle blaue Stunde bevor alles erwacht, die exotischen Vogelstimmen am Morgen, die braun gebrannten Männer, die auf Lasträdern durch die Straßen fahren und mit Trillerpfeifen und Megaphonen auf ihre Orangen, Reinigungsmittel oder Tomaten aufmerksam machen: „Tomaten, frische Tomaten! Pffiiiiit! Tomaten! Pffiiiiit, Pffiiiiit!“
Überall riecht es wie mit Duftwasser gewischt. Erst jetzt bemerke ich: Es riecht nach Blumen. Tauben gurren in über und über blühenden Bäumen. Pelikane, Kormorane und Adler fliegen so zahlreich wie andernorts Krähen.
Bei Tag ist es warm und in den Abendstunden angenehm kühl. Die Dächer liegen voller Krempel, auch wenn sie die malerischste Aussicht bieten.
Rings um die Pyramidenstadt herrscht reges Treiben. Die Menschen sind mit Touristen und den Dienstleistungen für einander beschäftigt. Zurück in Doras kleinem Gästehaus, finde ich endlich zum ersten Mal seit meiner Abreise etwas Ruhe. Nach einer warmen Dusche setze ich mich zu ihr in die Küche. Der kleine Anbau steht neben meinem Häuschen und ist zum Hof hin offen. Dora lebt von ihren internationalen Gästen – monetär wie geistig. „Als junge Frau habe ich in Mexiko- Stadt Dramaturgie und Literatur studiert.“
Stolz hebt sie den Kopf und sieht mich gerade an.
„Man kann nicht davon leben“, sagt sie und malt mit dem Finger Kreise auf das Blumenmuster der Plastiktischdecke.
Ich nicke verständnisvoll. Ein gut aussehender Mann kommt herein und reicht mir gefühlvoll die Hand. „Pierre ist aus Frankreich. Er ist vor 20 Jahren hier hängen geblieben“, sagt die Mexikanerin und ihre Augen glänzen wieder.
Sie leben hier zusammen mit Doras 86-jährigen Vater. Er hat sich neben uns gesetzt und knöpft seine Strickjacke zu. „Es ist ein wenig kühl heute“, sagt er und lächelt verschmitzt. Es sind 39 Grad. Ich trage leichte Sommersachen und schwitze.
Dora und Pierre sind ein hübsches, entspanntes Paar, freundlich, gütig, aber auch geschäftstüchtig und lebensweise. Das wenige, was sie brauchen, bringen Touristen aus aller Welt in den kleinen Kosmos ihres Claims. Sie nehmen das Geschenk an wie das Geschenk des Lebens selbst, voller Dankbarkeit, Demut und Lebensfreude.
Als ich eine Hibiskusblüte in mein Notizbuch zeichne, laden sie mich zu einem Rundgang ein, um mir die wenigen Pflanzen in ihrem ungeordneten Garten zu zeigen. Hibiscus, der in Mexiko Tulipan heißt, Arnica, Kaktusfeigen und Magey, das Aloe Vera der Maya, wachsen hier mehr zufällig als angepflanzt und gehegt. Ich mache Fotos, Skizzen und Notizen.
Mein Interesse beflügelt die beiden. Pierre nimmt sich vor, den Garten zu gestalten und die Pflanzen zu beschriften. Ein Plan, dessen Um45 setzung bei Gästen sehr gut ankommen wird. Daran, wie euphorisch Pierre seine Vision entwirft, sehe ich, dass es lange, lange dauern wird.
Dora sagt: „Jeder hat etwas zu lehren.“
Ich lächele. Wie Recht sie hat!